Es geht um gesamteuropäische Solidarität UND nachhaltige Entwicklung der besonderen Potenziale Sachsens

Erwiderung des Vor­sitzen­den der Frak­tion DIE LINKE, Rico Geb­hardt, auf die Regierungserk­lärung von Min­is­ter­präsi­dent Tillich zum The­ma „EU-Haushalt ab 2014 sichert Sach­sen weit­er gute Per­spek­tiv­en“
— Es gilt das gesproch­ene Wort! -

Sehr geehrter Herr Präsi­dent,
meine Damen und Her­ren,

wert­er Herr Min­is­ter­präsi­dent Tillich! So kühn wie bei der Anmel­dung dieser Regierungserk­lärung haben wir Sie noch nie erlebt: „EU-Haushalt ab 2014 sichert Sach­sen weit­er gute Per­spek­tiv­en“ – unter diesem Titel haben Sie ger­ade zu uns gesprochen. Und das, obwohl über ebendiesen europäis­chen Etat heute erst vom Europa­parla­ment abges­timmt wird. Ihre Reden­schreiber mussten also einen belo­bi­gen­den Text über etwas ver­fassen, was es noch gar nicht gibt.

Nun führen wir ja auf Antrag der Koali­tion heute noch eine große Dro­gen­de­bat­te, der ich nicht vor­greifen möchte. Aber ich frage mich schon, was man genom­men haben muss, um aus einem quer durch alle Parteien und Frak­tio­nen auf europäis­ch­er Ebene höchst umstrit­te­nen Haushalt­sen­twurf sichere Per­spek­tiv­en für den Freis­taat abzuleit­en.

Nach dem Entwurf des Mehrjähri­gen Finanzrah­mens 2014–2020, über den wir heute sprechen, kön­nen wir fest­stellen: Sach­sen ist mit einem blauen Auge davongekom­men.

66 Prozent Weit­er­förderung im Ver­gle­ich zur jet­zi­gen Höch­st­förderung hat­ten EU-Kom­mis­sion und Par­la­ment vorgeschla­gen, 64 Prozent will nun der Rat. Die Kofi­nanzierungsrate bis zu 80 Prozent auch für Leipzig ist ein guter Erfolg. Das ist vor allem dem Engage­ment der säch­sis­chen Europaab­ge­ord­neten Her­mann Win­kler, Con­stanze Krehl und Cor­nelia Ernst, zu ver­danken.

Die erre­icht­en Ergeb­nisse sind aber nur vor dem Hin­ter­grund des befürchteten höheren Aus­falls von För­der­mit­teln als „pos­i­tiv“ zu bew­erten, um keine Missver­ständ­nisse aufkom­men zu lassen.

Die eigentliche Her­aus­forderung aber, näm­lich die jet­zige Debat­te um För­der­mit­tel angesichts der sich völ­lig verän­dern­den Finanzierungs­grund­la­gen in der nahen Zukun­ft, also EU-Förderung, Sol­i­darpakt, Län­der­fi­nan­zaus­gle­ich u. ä., als Weck­ruf für ein strate­gis­ches Umdenken zu ver­ste­hen, wurde nicht angenom­men, und ich habe auch in Ihrer Rede dazu keine Wort ver­nom­men.

Wir als LINKE beken­nen uns zur gesam­teu­ropäis­chen Sol­i­dar­ität. Wir haben 28 Mit­gliedsstaat­en, seit 2004 sind vor allem arme oder bit­ter­arme Län­der neu zur EU hinzugekom­men.
80 Prozent aller Infra­struk­turleis­tun­gen in Rumänien beispiel­sweise wer­den zurzeit mit EU-Mit­teln finanziert. Das ist auch gut so, denn wir wollen, dass die Men­schen über­all in ihrer Heimat eine Per­spek­tive haben. Ich wieder­hole heute gern, was ich hier schon ein­mal gesagt habe: Man kann sich nicht ein­er­seits über Armutsflüchtlinge aus diesen Staat­en bekla­gen und ander­er­seits die Bekämp­fung der Armut in diesen Län­dern unter­lassen.

Genau­so wenig ser­iös ist es übri­gens, wenn Deutsch­land seinen Beitrag zum EU-Haushalt deck­elt, obwohl der Bedarf des sozialen Aus­gle­ichs in Europa gestiegen ist, und gle­ichzeit­ig kri­tisiert wird, dass deutsche Regio­nen weniger kriegen als früher.

Bei der Säch­sis­chen Staat­sregierung wiederum kol­li­diert das Selb­stver­mark­tungs­bedürf­nis des Kabi­netts Tillich mit der Inter­essen­vertre­tung für den Freis­taat: Nach­dem der Min­is­ter­präsi­dent unser schönes Sach­sen in den Medi­en schon in die Ziel­ger­ade hin zu den zehn wirtschaftsstärk­sten Regio­nen des Kon­ti­nents hinein­gere­det hat, kön­nen wir froh sein, dass die EU bei uns über­haupt noch Förderbe­darf wahrn­immt. Auch hier gilt: Etwas mehr Beschei­den­heit wäre klüger und brächte der Bevölkerung im Freis­taat mehr.

Für den EU-Haushalt gilt sowieso das Gle­iche, was wir für den säch­sis­chen Haushalt stets anmah­nen: Es geht nicht um eine möglichst wun­der­same Geld­ver­mehrung, son­dern um eine vernün­ftige Ver­wen­dung der Steuergelder.

Die EU-Kom­mis­sion hat ger­ade erst den Regierun­gen emp­fohlen, mehr in sozialen Zusam­men­halt zu investieren. Als konkretes Beispiel wird die Ver­min­derung der Zahl der Schu­la­b­brech­er genan­nt. In Leipzig haben wir 15 Prozent Jugendliche ohne Schu­la­b­schluss – die Lösung solch­er Prob­leme, Herr Tillich, inter­essiert die Men­schen mehr als das Jonglieren mit abstrak­ten Förderkat­e­gorien!

Reden wir also weit­er über Real­itäten. Sie, Herr Min­is­ter­präsi­dent, haben in einem Brief an die Europaab­ge­ord­neten um Zus­tim­mung zum Vorschlag des Europäis­chen Rates gewor­ben. Dieser Vorschlag umfasst Verpflich­tun­gen für Aus­gaben in Höhe von 960 Mil­liar­den Euro, wobei die Mit­gliedsstaat­en bish­er lediglich 908 Mil­liar­den Euro ein­speisen wollen. Stellen Sie sich mal vor, wir wür­den als Säch­sis­ch­er Land­tag einen Lan­deshaushalt beschließen, in dem jed­er 18. Euro nicht gedeckt ist, also mehr als fünf Prozent Ein­nah­men fehlen.
Bei aller Kri­tik an Finanzmin­is­ter Unland: So etwas würde er uns nicht vor­legen.

Zur Real­ität in Europa gehört aber auch, dass die europäis­chen Steuerzahlerin­nen und Steuerzahler bish­er 4,5 Bil­lio­nen Euro für die Ret­tung mar­o­der Banken aufge­bracht haben. Zugle­ich ist es für Unternehmen immer schwieriger, bei diesen Banken Kred­ite für Investi­tio­nen zu bekom­men.

Nach ein­er Studie von Ernst & Young kämpft in Deutsch­land jedes zehnte Unternehmen ums Über­leben, und das, obwohl das Lohn­niveau seit über zehn Jahren vor sich hindüm­pelt. Ja, wir als LINKE sagen – und find­en dafür immer mehr Zus­tim­mung auch in Kreisen, die von Wirtschaft mehr ver­ste­hen als die FDP: Dem Mit­tel­stand fehlt die Nach­frage. Dies ist Folge des flächen­deck­enden Lohn­dump­ings, und deshalb brauchen Deutsch­land und ins­beson­dere auch das Niedriglohn­land Sach­sen einen flächen­deck­enden geset­zlichen Min­dest­lohn! Jet­zt!

Bevor Frau Windisch mich wieder mit Zwis­chen­rufen trak­tiert, dass ich nicht zum The­ma rede, möchte ich aus­drück­lich um ein Ver­ständ­nis für die Kom­plex­ität des The­mas dieser Debat­te wer­ben, weil wir son­st nicht über Worthülsen hin­auskom­men.

Die OECD hat unlängst darauf hingewiesen, dass viele Konz­erne in Europa Steuerquoten von fünf Prozent haben. Also weit weniger als ein klein­er Angestell­ter. So kann Europa nicht funk­tion­ieren – auch dazu muss eine säch­sis­che Staat­sregierung das Wort erheben, die wirk­lich einen poli­tis­chen Beitrag zu sicheren und guten Rah­menbe­din­gun­gen für die Men­schen im Freis­taat Sach­sen leis­ten will.

Die EU hat den Frieden­sno­bel­preis bekom­men, aber der soziale Frieden ste­ht auf der Kippe. Wenn in Südeu­ropa halbe Jahrgänge von Jugendlichen arbeit­s­los sind und in Osteu­ropa Men­schen Hunger lei­den und in Slums dahin­veg­etieren, wer­den wir hier keine Insel der Seli­gen auf­schüt­ten kön­nen.

Herr Schie­mann fordert ja bere­its die Wieder­errich­tung der Gren­zen zu unseren Nach­barn; ich bin ges­pan­nt, wann der erste CDU-Abge­ord­nete Zäune oder eine Mauer haben will. Spätestens dann kön­nen wir Ihnen den Beina­men „SED-Nach­fol­ger“ unent­geltlich abtreten …

Wir hat­ten hier in Sach­sen mal einen Min­is­ter­präsi­den­ten, der hat sich mit der EU-Kom­mis­sion angelegt, wenn es um faire Entwick­lungschan­cen für Indus­tri­e­s­tandorte in Sach­sen gegan­gen ist. Das war Kurt Biedenkopf. Herr Tillich dage­gen wagt es ja nicht mal, Frau Merkel zu wider­sprechen. Deshalb spielt Sach­sen außer­halb der Lan­des­gren­zen zurzeit poli­tisch keine Rolle mehr.

Ein Min­is­ter­präsi­dent, von dem man im eige­nen Land fast nichts hört, kann sich natür­lich wed­er gegenüber der Bun­desregierung noch auf europäis­ch­er Ebene Gehör ver­schaf­fen. Das tut uns nicht gut.
Ich werde Sie mit all den Zahlen ver­scho­nen, über die jet­zt aus säch­sis­ch­er Per­spek­tive zu sprechen wäre. Dafür sind die Fach­poli­tik­er zuständig – freuen Sie sich schon jet­zt auf meinen Frak­tion­skol­le­gen Sebas­t­ian Scheel!

Ich möchte Ihnen stattdessen abschließend noch einige Gedanken nahezubrin­gen ver­suchen, die aus mein­er Sicht der Schlüs­sel für eine gute Zukun­ft Sach­sens in Europa sind. Wir sind schließlich das Bun­des­land mit der läng­sten EU-Außen­gren­ze gewe­sen, also allein schon geografisch das europäis­chste aller Bun­deslän­der.

Die jet­zige europäis­che För­der­mit­tel-Debat­te sollte als Weck­ruf für ein strate­gis­ches Umdenken ver­standen wer­den. Weg von einem Nach­bau West auf niedrigerem Niveau hin zu einem sozial-ökol­o­gis­chen Umbau. Die Nach­haltigkeit, die kür­zlich hier Gegen­stand der Debat­te über eine Fachregierungserk­lärung war, lässt sich nicht durch ein biss­chen Umverteilen hier und da erre­ichen. Die langfristige Sicherung der sozialen, ökol­o­gis­chen, materiellen und ideellen Lebens­grund­la­gen in Sach­sen bedarf eines selb­st­be­wussten regionalen Auftretens im Sinne von „Sach­sen in Europa“.

Ich weiß, das ist nicht immer leicht. Wir als säch­sis­che LINKE üben dieses regionale Selb­st­be­wusst­sein anhand der säch­sis­chen Ver­fas­sungs­de­bat­te derzeit inner­halb der eige­nen Partei ein. Ein solch­er Weg ist nicht ein­fach und nicht frei von gele­gentlichen Rückschlä­gen – wer wüsste das aktuell bess­er als ich -, aber Herr Tillich:
Wenn Sie das inner­halb der CDU nicht hin­bekom­men, ist es im Inter­esse Sach­sens wirk­lich bess­er, wenn Sie die näch­ste Land­tagswahl von Ihren dien­stlichen Verpflich­tun­gen ent­bindet.

Wer als Poli­tik­er für die Bevölkerung ein Leben in größt­möglich­er Sicher­heit erre­ichen will, frei von Angst vor Ver­ar­mung oder Krim­i­nal­ität, muss selb­st etwas riskieren.
Näm­lich die einge­fahren Gleise eines beque­men Lob­by­is­mus ver­lassen, der so lange Sub­ven­tio­nen hin und her­schiebt, bis nie­mand mehr laut schre­it. Dann aber bleiben all diejeni­gen auf der Strecke, die keine PR-Abteilung für sich arbeit­en lassen kön­nen.

Der LINKE Wirtschafts- und Europamin­is­ter unseres Nach­bar­lan­des Bran­den­burg, Ralf Christof­fers, macht Ihnen, meine Damen und Her­ren der schwarz-gel­ben Koali­tion in Sach­sen, vor, wie man pro­duk­tiv mit der gegen­wär­ti­gen Sit­u­a­tion umge­hen kann. Auf seinen Vorschlag hat die Pots­damer Lan­desregierung die eige­nen Pri­or­itäten für die EU-Förder­pe­ri­ode 2014–2020 fest­gelegt: Inno­va­tion, Bil­dung und Fachkräftesicherung, scho­nende und effiziente Ressourcennutzung, erneuer­bare Energien. Zugle­ich will man fol­gende lan­desspez­i­fis­che Quer­schnit­tauf­gaben meis­tern: Kon­struk­tiv­er Umgang mit dem demografis­chen Wan­del, stärkere Inte­gra­tion der Entwick­lung von städtis­chen und ländlichen Räu­men sowie eine Unter­stützung von Men­schen und Insti­tu­tio­nen bei den voran­schre­i­t­en­den Inter­na­tion­al­isierung­sprozessen.

So sieht nach­haltige Poli­tik aus, Herr Tillich. Sie aber sind sich treu geblieben und wollen gar nicht regieren, son­dern nur ver­wal­ten. Dabei fühlen Sie sich sich­er und gut. Damit haben Sie unsere Erwartun­gen erfüllt. Mehr haben wir näm­lich nach den Erfahrun­gen der ver­gan­genen Jahre auch gar nicht erwartet.

Liebe Kol­legin­nen und Kol­le­gen,

unsere Ansatz für Europa lautet: Nicht das Geld oder der Markt, geschweige denn Finanzmärk­te sind der Aus­gangspunkt unseres poli­tis­chen Han­delns, son­dern die Men­schen in Sach­sen und Europa.

Wer sich primär als Gehil­fe „freier Märk­te“ ver­ste­ht und dann von hier­aus die Pri­or­itäten set­zt und annimmt, dass der Markt das schon irgend­wie richtet und Wohl­stand für alle sich anschließend mit ein­er gewis­sen Zwangsläu­figkeit ein­stellt, wird immer geneigt sein, Neg­a­tiv­fol­gen auf der Seite der Men­schen als hinzunehmende ‚Kol­lat­er­alschä­den‘ anzunehmen.

Er arbeit­et am Ende sog­ar gegen die europäis­che Idee, obwohl klar ist, dass Mit­gliedsstaat­en und Regio­nen in der Glob­al­isierung nur in einem starken Europa beste­hen kön­nen.

Wir sind davon überzeugt, dass für Deutsch­land und auch für Sach­sen genü­gend Ressourcen vorhan­den sind, um allen Men­schen ein lebenswürdi­ges Dasein zu ermöglichen. Dazu gehört ein Leben ohne tiefge­hende Angst des sozialen Absturzes und der Ver­ar­mung und stattdessen funk­tion­ierende Daseinsvor­sorge, soziale Sicher­heit und Inte­gra­tion.

Ich nehme an, die meis­ten Bürg­erin­nen und Bürg­er sehen das auch so.
Soll­ten die Sach­sen also wieder mal nicht nur irgend­wie ver­wal­tet, son­dern tat­säch­lich regiert wer­den wollen, wis­sen sie zumin­d­est schon jet­zt, wie es nicht geht: Näm­lich mit Ihrer Regierung. Das ist nicht schlimm, denn es gibt Alter­na­tiv­en. Die sind gut für Sach­sen und Europa. Fort­set­zung fol­gt in der näch­sten Runde.

Vie­len Dank!