Sachsen braucht Plan für Asyl – wegschauen und wegverwalten geht nicht / Angebot zu Kooperation mit Koalition
Zweite Rede in der Sondersitzung des Parlaments zum Thema Asyl (Erwiderung auf Fachregierungserklärungen von Innenminister und Integrationsministerin sowie Rede zum gemeinsamen Antrag von LINKEN und GRÜNEN, Landtags-Drucksache 6/2500): — Es gilt das gesprochene Wort —
Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, den Deutschland am 1. September 1939 mit dem Angriff auf Polen entfesselte und der millionenfachen Tod und unfassbares Leid über die Menschen in Europa und der Welt brachte. Dieser Tag – der Ministerpräsident erinnerte ja in seiner Rede ebenfalls daran — soll uns immerwährende Mahnung sein, dass Kriege immer nur Leid, Tod und Zerstörung über die Menschen bringen
Gerade in Zeiten wie diesen ist es wichtig, sich nicht nur am heutigen Tag an den Wert des Friedens zu erinnern: Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht, wie seit 1945 nicht mehr. Nur wenige finden den Weg nach Europa und nach Deutschland, trotz der aktuellen Schätzungen von 800.000 Menschen in diesem Jahr. Die allermeisten Menschen, die auf der Flucht sind, fliehen vor Krieg, Terror und Verfolgung.
Rechtspopulistische und neofaschistische Parteien und Organisationen, aber auch viele Unorganisierte – oft fälschlicherweise besorgte Bürgerinnen und Bürger oder Asylkritiker genannt — hetzen gerade auch in Sachsen gegen Flüchtlinge und ihre Unterbringungen.
Diesem Hass gegen Geflüchtete müssen wir als Gesellschaft begegnen. Indem wir dem Hass und Rassismus widersprechen.
Gesicht zeigen, den Humanismus auf die Straße tragen. Aber auch ganz konkret, indem wir Flüchtlinge willkommen heißen, uns engagieren und einbringen.
Viele Menschen im Freistaat tun genau das seit vielen Monaten.
Auch ihre Arbeit gilt es zu würdigen. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank und ihnen gebührt uns allergrößter Respekt.
Deutschland ist nicht isoliert in der Welt. Viele in der Bundesregierung wollen mehr Verantwortung in der Welt wahrnehmen und schwatzen dann mal ganz schnell von militärischer Verantwortung.
Ich sage: Wenn Deutschland Verantwortung in der Europa- und in der Weltpolitik übernehmen will, dann bitte bei der Solidarität und Hilfe für Geflüchtete, aber auch bei der Bekämpfung der Fluchtursachen.
Ob in der Ukraine, in der arabischen Welt, in Afrika: Weltweit gab es in den letzten Jahren mehr Krisenherde als jemals zuvor in der Geschichte.
Wir brauchen ein entschiedenes Eintreten für den Frieden, aber auch gegen weltweite Armut, Hunger und Umweltzerstörung.
In praktisch allen Kriegs- und Krisenherden, wo sich die Menschen Richtung Deutschland aufmachen, hat die sogenannte „westliche Welt“ massiv eingegriffen und hat mitgemischt.
Die Ergebnisse sind zum Davonlaufen. Das kann man den Menschen, die genau dies jetzt tun, nicht vorwerfen.
Wir brauchen ein radikales Umdenken in der europäischen Flüchtlingspolitik. Statt Unsummen in die Abschottung der Festung Europa zu investieren, müssen wir legale Wege nach Europa schaffen.
Und wir müssen aufhören, durch Waffenexporte auch noch an den Konflikten in der Welt mitzuverdienen.
Sie denken, wir hätten damit im Freistaat Sachsen nichts zu tun?
Doch, wir werden als Politikerinnen und Politiker danach gefragt, und die Menschen lassen sich nicht mehr abspeisen mit der Ausrede, das entscheiden die da in Berlin oder Brüssel.
Die CDU-Fraktion ist ja auch der Meinung wir könnten mit einem Beschluss im sächsischen Landtag die Brüsseler Behörden dazu bewegen Deutsch als gleichwertige Arbeitssprache in der Europäischen Union weiter zu fördern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich denke, Sie wissen wie ich, dass nicht alle Asylbewerber_innen hier in Sachsen bleiben. Ein Großteil der Asylsuchenden verlässt uns nach ihrer Anerkennung Richtung Westdeutschland und Berlin. Weil dort bereits Familienangehörige leben, weil man dort leichter Arbeit zu bekommen scheint, ja, und wohl auch, weil dort die Stimmung Fremden gegenüber offener wirkt.
Ob das immer und überall so ist, da habe ich die gleichen Zweifel wie der Ministerpräsident Bodo Ramelow aus Thüringen.
Wir haben also eigentlich neben aller Humanität ein Eigeninteresse, dass der syrische Arzt zum Beispiel in Bautzen bleibt, obwohl er familiäre Bindungen nach Bremen hat.
Den Freistaat Sachsen haben in den vergangenen 25 Jahren 800.000 Menschen verlassen.
Ich will die Zahl noch mal wiederholen:
32.000 Menschen haben uns 25 Jahre lang jährlich verlassen – es sollte also nicht an Platz für Neuankömmlinge mangeln.
Der Landtagspräsident hat am vergangen Dienstag hier im Landtag zwei Ausstellungen vom Bund der Vertrieben eröffnet. Die eine beschäftigt sich mit der Besiedlung durch deutsche Auswanderer in ost- und südosteuropäischer Gegenden. Auf einer Tafeln werden Gründe für das Auswandern benannt: Hunger, Arbeitslosigkeit, Überbevölkerung, Krieg, um mal nur vier zu nennen. Auf der Homepage des Landtages kann man dazu auch den nachfolgenden Satz lesen: „Gezeigt werden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen, die zur Einwanderung reizten.“
Ich wünsche mir, dass man beim Umgang mit der derzeitigen Fluchtbewegung eine vergleichbare Differenziertheit an den Tag legen würde. Dann wären wir schon einen Schritt weiter.
Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin hat gerade festgestellt:
Sachsen hat keinen Plan in der Asylpolitik.
Ähnliches ist von den Stadtspitzen aus Dresden und Leipzig zu hören. Wenn künftig der Schwerpunkt der Erstaufnahme im Bereich der drei sächsischen Metropolen liegen soll – was wir auch unterstützen –, dann müssen solche Stimmen ernst genommen werden und zu praktischen Konsequenzen führen.
Der Antrag von LINKEN und Grünen, den wir zum Gegenstand dieser Sondersitzung gemacht haben, ist unser gemeinsames Angebot an die Koalition, zu einem solchen Plan zu kommen.
Wegschauen und Wegverwalten geht nicht mehr.
Wenn wir uns gemeinsam zu einem solchen Plan durchringen, dann kann aus der großen Herausforderung der Integration von Geflüchteten in Sachsen eine noch größere Chance für den Freistaat erwachsen.
Ja, unsere Gesellschaft wird sich durch die Flüchtlinge verändern.
In Deutschland sowieso. Und in Sachsen erst recht.
Wir sind sozusagen nicht mehr unter uns.
Nun feiern wir in wenigen Wochen 25 Jahre Frei-Staat Sachsen. Der Freistaat Sachsen ist die Frucht eines Öffnungsprozesses, der mit der Maueröffnung im Herbst 1989 begann. Diese Öffnung haben die Sachsen mit herbeidemonstriert.
Ja, viele Sachsen haben sie durch eigene Flucht beschleunigt. Wir erinnern uns an die Szenen an der Prager Botschaft, die Züge über Dresden – Sie alle kennen die Bilder.
Diese Öffnung hat unsere Gesellschaft in Sachsen nachhaltig verändert. Es kam nicht nur die D‑Mark, sondern es kamen auch viele Neubürger zu uns, zunächst vor allem Westdeutsche. Auch die Zusammensetzung dieses Landtags wäre eine andere ohne diese Migrationsbewegung.
Es kamen auch Ausländerinnen und Ausländer, mehr als vorher da waren, aber insgesamt blieb ihr Anteil ein Vierteljahrhundert verschwindend gering.
Nun will ich niemanden vor die Entscheidung stellen, sagen zu müssen, wer nun schwieriger zu integrieren ist: Wessis oder Syrer. Das ist sowieso Ansichtssache.
Wenn aber nun beispielsweise die Stadt Bautzen dank Asylsuchenden wieder mehr als 40.000 Einwohner hat, wenn Schulen auch abseits der Metropolen wieder mehr Kinder haben, dann ist das doch ein Grund zur Freude.
Und so wie wir viele der längst kulturell eingebürgerten Neusachsen mit westdeutschem Migrationshintergrund nicht mehr missen wollen, werden wir uns auch an andere Neu-Sachsen gewöhnen.
Man komme mir auch nicht mit dem Argument, nun kämen aber vor allem Muslime. Es kommen ja gerade die Muslime, die dem Islamismus entflohen sind. Das sind die im Vergleich zum Herkunftsland eher Liberalen, nicht die Fundamentalisten. Natürlich ist ihre Liberalität nicht identisch mit dem, was hierzulande als freizügig gilt.
Aber wir ertragen ja auch einen Landesbischof mit homophoben Ansichten, und Medienbeobachter rechnen es ihm schon als Pluspunkt an, dass er innerkirchlich Leute mit anderen Ansichten nicht offensiv verfolgt.
Mir persönlich zum Beispiel ist Religion etwas Fremdes, aber ich bedauere den Weggang von Heiner Koch aus Sachsen zutiefst, weil er zu den leuchtenden Beispielen universaler Menschenfreundlichkeit gehört, die wir gerade jetzt so dringend bräuchten.
Ja, wir werden uns alle verändern, auch der Landtag, die Fraktionen, Parteien, Vereine, gesellschaftlichen Gruppen. Dass Sachsen heute auf fast ein Jahrtausend erfolgreicher Tradition von Erfindergeist zurückblicken kann, liegt daran, dass dieses Land sich immer wieder zu verändern verstand.
Ja, es kommen nicht nur Ärzte, Wissenschaftler und Handwerker.
Es kommen auch Analphabeten. Doch auch sie sind hoch spannende Menschen mit vielen Talenten, deren unkonventionelle Erschließung uns vielleicht auch zu neuen Wegen beim Umgang mit deutschen Schulabbrechern führt. Von denen hat Sachsen bekanntlich überdurchschnittlich viele.
Es kommen nicht zuletzt viele Menschen, von deren zuvorkommender Art im zwischenmenschlichen Umgang wir viel lernen können.
Nach der Unterbringung die uns ja gerade vollständig zu überfordern scheint, beginnt ja die eigentliche Aufgabe: Die der Integration, in die Kita, in die Schule, in die Berufsausbildung, in die Arbeits- und in die Lebenswelt hier bei uns in Sachsen. Dazu brauchen wir die notwendigen strukturellen und personellen Voraussetzung: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiter_innen Dolmetscher_innen, um nur einige zu nennen. Wir brauchen sie nicht befristet, wir werden sie dauerhaft benötigen. Machen Sie nicht den Fehler und denken, es wird morgen vorbei sein. Wir brauchen diese Frauen und Männer nicht nur wegen den zu uns Kommenden, sondern auch für die Einheimischen.
Denken wir immer daran: Was wir tun, tun wir für die ganze Gesellschaft, nur so können Integration und Inklusion funktionieren. Und dem dient der Antrag von LINKEN und GRÜNEN, den wir gemeinsam für diese Sondersitzung eingebracht haben.