Eröffnung Preisverleihung „Willkommenspreis“ der Linksfraktion 2016
Wer über die Vertreibung von Deutschen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges reden will, darf über den deutschen Überfall auf die Sowjetunion nicht schweigen. Ihm folgte nach Einschätzungen aus der Wissenschaft der „ungeheuerlichste Eroberungs‑, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt
Die Schlacht von Stalingrad gilt als Wendepunkt dieses unermesslich und unvorstellbar grausamen Krieges – in ihr kamen über 700.000 Menschen zu Tode, die meisten davon waren Soldaten der Roten Armee. Mit der sächsischen Erstaufführung der „Stalingrad-Sinfonie“ anlässlich der heutigen Veranstaltung möchten wir einen Beitrag zum 75. Jahrestag des Gedenkens an den Überfall auf die Sowjetunion leisten.
Und schon hier darf ich dem Kammerorchester des Sorbischen National-Ensembles für das Konzert danken, dass wir gleich hören werden.
Es wird ja zurzeit von manchen in Deutschland der Eindruck erweckt, die größte Gefahr auf der Welt gehe von Russland aus. Darauf könnte man polemisch antworten: Das hat schon Adolf Hitler so kommuniziert. Mit den eben beschriebenen verheerenden Folgen.
Man sagt: Die Nachkriegszeit sei längst vorbei.
Wir sagen: Wir wollen nicht in einer neuen Vorkriegszeit leben. Wer dauerhaften Frieden für die Zukunft will, muss sich der unfriedlichen Vergangenheit stellen. Deshalb ist die weitgehende Ignoranz, die von der offiziellen sächsischen Politik diesem 75. Jahrestag entgegengebracht wird, nicht nur eine Beleidigung der Menschen in Russland, sondern auch moralisch und ethisch unverantwortlich.
Es ist richtig, dass die zu DDR-Zeiten gepflegte Tabuisierung des Themas Vertreibung beendet worden ist. Es ist aber ganz falsch, nun im Gegenzug die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu tabuisieren. Wer über Flüchtlinge spricht, sollte auch das Thema Fluchtursachen nicht verdrängen.
Heute verleiht die Linksfraktion im Sächsischen Landtag zum zweiten Mal ihren Preis „Gelebte Willkommenskultur und Weltoffenheit in Sachsen“. Entschieden hat eine Jury, in der neben Abgeordneten auch Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft vertreten sind, die sich seit Jahren auf dem Gebiet von Migration und Asyl mit Kompetenz und Einfühlungsvermögen engagieren. Finanziert werden die Preise aus dem Spendenfonds, in den die Abgeordneten der Fraktion einzahlen.
Als wir den Willkommenspreis erstmals vergaben, war die Welt eine andere als heute. Inzwischen sprach Angela Merkel ihr „Wir schaffen das“ und ließ es von anderen Stück für Stück dementieren. Inzwischen gab es die Grenzöffnung nach dem Flüchtlingsdrama in Ungarn und Monate später die Schließung der Balkanroute.
Damals wie heute ertrinken Menschen im Mittelmeer. Ihre Flucht endet im Tod. Damals wie heute machen sich Menschen auf den Weg, auch wenn die meisten nicht mehr in der Mitte Europas ankommen.
Zu den schrecklichen Bildern auf den ersten Etappen der Flucht gesellen sich die Dokumente des Hasses gegen Geflüchtete am Ziel ihrer Flucht, da ist Sachsen leider deutschlandweit führend. Viele sächsische Ortsnamen wurden zu Symbolen aggressiver Fremdenfeindlichkeit, unter anderem Heidenau und Freital, zuletzt aber auch Clausnitz und – Bautzen.
Bautzen wurde aber dann sehr schnell zugleich zum Markenzeichen für den richtigen, ehrlichen, offenen und mutigen Umgang mit einem solchen Desaster – und das Gesicht dafür wurde – man kann schon fast sagen: weltweit – der Oberbürgermeister der Stadt, Herr Alexander Ahrens. Ihm gebührt dafür unser Dank, und ich möchte ihm an dieser Stelle auch noch einmal ganz persönlich herzlich danken.
Wenn Grundwerte der Gesellschaft bedroht werden, ist der Aufstand der Anständigen wichtig, richtig und notwendig. Auch den hat es in Bautzen gegeben, nicht zuletzt mit einer Manifestation auf der Friedensbrücke. Sie dürfen aber von den Zuständigen, von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, nicht allein gelassen werden, wie dies leider oft genug in Sachsen geschehen ist. Bautzen war und ist besser, das Rathaus hat klar Flagge für Menschlichkeit gezeigt.
Entgegen einem landläufigen Vorurteil sind wir LINKE nicht staatsgläubig oder staatsfixiert. Wir glauben an die Potenziale der Gesellschaft und wollen, dass Politik sie fördert und nicht hemmt. In diesem Sinne ist auch unser Preis für gelebte Willkommenskultur und Weltoffenheit in Sachsen Anerkennung und Ansporn für eine aktive Zivilgesellschaft.
Vor einem Jahr auf der ersten Preisverleihungsveranstaltung sagte der frühere Ausländerbeauftragte des Freistaates Sachsen, Martin Gillo, die Herausforderung der Integration von Migrantinnen und Migranten sei „zu groß für die sonst üblichen Abgrenzungen zwischen den Parteien“.
Vor gut einer Woche durfte ich in Leipzig eine Zusammenkunft der Bewegungen des Willkommens, der Solidarität, der Migration und des Antirassismus erleben: “Welcome2Stay”. Auch hier wurde über Partei- und Milieugrenzen hinweg höchst praxisorientiert diskutiert.
Politik ist eine Welt der Papiere – im klassischen bzw. übertragenen digitalen Sinne: Gesetzestexte, Anträge, Beschlussvorlagen, Entwürfe, Resolutionen usw. usf.
Bei der Papier-Produktion zum Thema Migration und Integration werden wir zunehmend Beteiligte und Zeugen einer immer stärkeren Polarisierung. Übrigens ganz unabhängig von den Zugangszahlen Geflüchteter. Selbst wenn fast niemand mehr die Flucht bis zu uns schafft, wird über die, die schon da sind, mit wachsender Heftigkeit gestritten.
Wir haben uns also für den Ort Bautzen entschieden, weil er dafür stehen könnte, was wir aus der Herausforderung Integration praktisch zum Wohle aller schaffen können: für die, die schon lange da sind, für die, die gekommen sind, und für die, die noch kommen werden. Bautzens traditionelle sorbisch-deutsche Bikulturalität ist doch ein schöner Rahmen für ein solches Projekt.
Wer zu uns kommt, möchte im Regelfall nicht der betreute Exot am Rande bleiben, sondern möglichst schnell in einem neuen normalen Alltag ankommen. Das wird nicht in geschützten Nischen gehen, sondern nur inmitten des gesellschaftlichen Lebens. Deshalb gehört zur Flüchtlingshilfe immer auch die Überzeugungsarbeit in der Gesellschaft, und auch dafür gibt es in Bautzen viele gute Beispiele für erkenntnisfördernde öffentliche Foren.
Ich freue mich, dass Herr Oberbürgermeister Ahrens heute nicht nur Zeit gefunden hat, hier bei uns zu sein, sondern auch jetzt zu uns spricht: Bitte sehr, Herr Ahrens, Sie haben das Wort!